Archiv für März 2008

27
Mär
08

Hommage an eine Großmutter

 

Als Großmutter starb, bekam ich am ganzen Leib warzenähnlichen Ausschlag.

Es begann an den Händen und zog sich rautenförmig vom Hals über den Busen bis hin zu den Oberschenkeln. Besonders der Daumen meiner linken Hand war von schlimmen Wucherungen betroffen.

„Wir müssen zum Arzt!“, sagte Mutter und schleppte mich von einem Dermatologen zum anderen.

„Das ist sicher im Zusammenhang mit der Pubertät zu sehen“, brummte der eine.

Ein anderer meinte:

„Suchen Sie für Ihre Tochter am besten psychologische Beratung, es ist durchaus möglich, dass diese Erscheinung mit dem Tod der Großmutter zu tun hat.“

Mir wurden Mittelchen und Tinkturen verabreicht und ich musste die verschiedensten Salben auftragen. Nichts zeigte dauerhafte Wirkung. Letztendlich vereinbarte Mutter einen Termin beim Psychologen. Es folgten zwei wöchentliche Gesprächstermine, die ich nur einhielt, weil ich von Mutter dazu gezwungen wurde. Wichtiger jedoch ist, dass mir vom ersten Tage an meine Großmutter erschien. Ich weiß. Es klingt äußerst unglaubwürdig. Doch glauben Sie mir, so war es.

Selbst jetzt, da ich schreibe, habe ich das Gefühl, Großmutter sitzt hinter mir und streicht mir übers Haar. Sie hatte schmale, schöne Hände und trotz ihres Alters waren sie nur ein ganz klein wenig runzlig. Ihr schlichter goldener Ehering erschien im rechten Ringfinger wie eingearbeitet. Nie legte sie ihn ab.

Immer strich sie mir über das Haar. Ganz gleich, ob ich traurig war, oder vor Freude nicht ruhig sitzen konnte.  Manchmal legte ich meine Hände an Großmutters Haar. Sie war stets gut frisiert und die Friseurbesuche waren für sie etwas Besonderes.  Ihr Haar schimmerte dann ein wenig violett und sah aus wie eine Perücke.

Ich kenne Großmutter nicht anders, nie habe ich sie unfrisiert oder in einem alten Kittel gesehen.

Als Großmutter starb, war ich nicht da.

Zuletzt sah ich sie ziemlich geschwächt in ihrem Bett liegend. Ich konnte ihr nicht helfen und als sie schließlich starb, war ich gerade mit meinen Freundinnen unterwegs. Ich nannte sie „Freundinnen“, obwohl sie das im grunde genommen gar nicht waren.  „Das ist doch kein Umgang für dich!“, sagte Mutter immer. Je mehr sie darüber sprach, desto hartnäckiger beharrte ich auf meinen Umgang. Großmutter starb also im Krankenhaus und ich war mit meinem Umgang unterwegs.

Vergangene Nacht war ich mit Großmutter unterwegs.  Wir trafen uns mitten im Gladiolenfeld, den Lieblingsblumen meiner Großmutter. An jeder einzelnen Blume wuchsen Schuhe. Lila, gelb, rot, weiß… in den Farben der Gladiolen. Großmutter saß zwischen den langstieligen Blüten und lachte mich an. Ich schnitt Schuhe, wie man im Normalfall Blumen pflückt.

„Hannah! Schneide doch nicht so viele Schuhe, die noch gar nicht auf sind!“ Großmutter beobachtete mich aus den Augenwinkeln. Unbeirrt schnitt ich weiter Schuhe vom Grün. „Hilfst du mir tragen, Großmutter?“, frage ich sie. „Ich kann dir heute nicht bis nach Hause folgen, mein Enkelkind.“, entgegnete sie. Und ich lief, den Arm schwer von den zu tragenden Schuhen, allein nach Hause.

Oft besuchten Großmutter und ich den Zoologischen Garten. Sie kaufte mir am Bahnhof ein Eis. Und im Zoologischen Garten ein weiteres. Überhaupt stopfte mich Großmutter mit Süßigkeiten voll. Sie war der Ansicht, ich bekäme nicht ausreichend zu essen. Natürlich dauerte es nicht lange und ich hatte eine enorme Gewichtszunahme zu verzeichnen. Die Hänseleien der Mitschüler ließen nicht auf sich warten. „Sie hat Watte im BH!“, schrieen sie, und: „Fette Hannah, lach einmal!“. Ich konnte Großmutter nicht böse sein, wusste ich doch, dass sie sich alles mühsam vom Mund absparte. Es war mit Sicherheit nicht einfach, Großvater auszutricksen. Meine Großmutter entwickelte eine Fähigkeit, für die ich sie noch heute bewunderte.

„Einem guten Mann sagt man nicht viel, und einem schlechten  gar nichts.“ Das war einer ihrer Leitsätze. Großvater schien also ein schlechter Mann zu sein. Ich denke, er bekam von all dem gar nichts mit. Aber vielleicht wollte er auch gar nichts bemerken. Dann wäre er natürlich ein guter Mann, der sich als schlechter Mann darstellt, es aber gar nicht ist. War Großvater nun ein guter oder ein schlechter Mann? Das werde ich wohl nie erfahren.

Er brach sich beim Treppensturz das Genick.

Großmutter jedenfalls war eine gute Frau. Vielleicht ist das auch die Erklärung dafür, dass ich sie immer noch um mich spüre. Manches Mal mehr, dann wieder weniger. Aber ich fühle mich nie allein. Vielleicht liegt die Ursache auch darin begründet, dass ich noch immer in ihren Möbeln wohne. Fast ist es so, als ob Großmutter vor ihrer Anrichte steht und heimlich den für mich versteckten Eierlikör im Waffelbecher hervor holt. Großvater saß in diesen Momenten, den Rücken der Anrichte zugekehrt, vor dem Fernseher und schaute Karl Eduard von Schnitzler´s „Schwarzen Kanal“. Einige der alten Möbel stehen in meiner Wohnung und so ist meine Großmutter auch nach mehr als fünfundzwanzig Jahren noch immer bei mir.

In meinen Augen bleibt sie die schöne, ältere Frau mit dem silbergrau/violetten Haar und den behutsam berührenden Händen.

12
Mär
08

Picasso

 picasso-pablo-schlafende-frau.jpg

Ich habe mir heute einen Picasso gekauft.

Und einen uralten hölzernen Rahmen, der genau dazu passt. Dieses Gesamtkunstwerk rundet meine Einrichtung nun perfekt ab. Ich sage ja immer; ein Bild findet denjenigen, der es sucht, von ganz allein.

Der Kunsthändler, bei dem ich mehr als zwei Stunden verbrachte (nachdem ich mich in einer weiteren, vorangegangenen Stunde bereits für den Picasso entschieden hatte)  sagte, als er meinen erschrockenen Blick zur Uhr bemerkte: „Kunst braucht halt eben seine Zeit.“

08
Mär
08

Das dicke Mädchen

erschienen in „Pulsschläge“, 2006

 

 

Das dicke Mädchen sitzt auf einem Stück Wiese zwischen zwei Brombeerhecken. Ihr Gesicht ist violett verschmiert. Unter den Fingernägeln hat sie Trauerränder. Sie stopft sich die Brombeeren in den Mund und bemerkt nicht den älteren Jungen, der gegenüber der Hecke auf einer alten Eiche hockt und sie beobachtet. Der Junge zielt mit seinem Katapult auf das dicke Mädchen und trifft ihre linke Wange.
“Auuuuu!”, schreit sie. “Das war gemein, das sage ich!”
“Petze, Petze, wehe du erzählst etwas, dann kannst du was erleben!”, erwidert der Junge.
Das dicke Mädchen nimmt sich eine letzte Handvoll der saftigen Beeren und rennt davon. Nach ein paar hundert Metern kommt sie an einen stillgelegten Steinbruch. Allerlei Gerümpel findet sich da, ausrangierte Möbel, kaputte Henkeltassen, alte Töpfe und anderer Krempel. Sie hat sich dort eine Höhle gebaut, die sie ihre Wohnung nennt und es stört sie nicht, dass es dort dreckig ist. Inmmitten der Müllhalde findet sie einen alten Katalog. Was für eine großartige Entdeckung! Sie kann es gar nicht glauben, dass sie dieses Glück hat. Wunderschöne Frauen sieht sie darin, nur mit Unterwäsche bekleidet. Das dicke Mädchen schaut an sich herunter und beginnt zu weinen. Warum ist sie nur so dick?
Gleich wird es wieder Zeit und sie muss die Müllkippe verlassen. Sie versteckt den gefundenen Katalog und wirft, gerade so wie eine Wohnungsinhaberin, einen letzten Blick auf ihre Behausung, bevor sie aus dem Felsenloch steigt. Es ist Mittag und ihre Großmutter wird bereits mit dem Essen auf sie warten.

Oma kocht immer das, was das dicke Mädchen gern mag. Am liebsten isst sie Nudelsuppe mit frischen Würstchen. Sie weiß nicht, wie Oma diese Suppe kocht. Die Nudeln schwimmen nicht einfach im Wasser. Sie liegen dort in einer dicken, weißen Soße und ganz frische Würstchen gibt es darin. Oder auch Omas “Kartoffelpuffer”. Wenn es die zum Mittag gibt, kann sich das dicke Mädchen gar nicht beherrschen. Oma achtet darauf, dass ihre Enkeltochter ausreichend zu essen bekommt und nie hungrig den Tisch verlässt. Heute allerdings gibt es Nudeln mit Wurst.

“Iss mein Kind, immer iss! Du bist im Wachstum und dein Babyspeck wird schon noch verschwinden, mach dir mal keine Sorgen!”
Großmutter schöpft noch einmal Suppe auf den Teller des dicken Mädchens. Die geschnittenen Würstchen schwimmen in der weißen, dicken Nudelsuppe. Immer wieder taucht der große Löffel des kleinen, dicken Mädchens in die Suppe, voll beladen schaufelt sie die Nudeln in den Mund, der sich schon weit öffnet, bevor der Löffel auch nur annähernd in die Nähe gelangt. Sie schaufelt und schaufelt. Bald wird ihr übel werden, doch sie schaufelt noch immer das Essen in sich hinein. Sie kann doch die Großmutter nicht enttäuschen, die sich mit dem Essen immer so eine große Mühe gibt! Endlich ist Großmutter zufrieden und das dicke Mädchen lehnt sich erschöpft zurück.

“Leg dich etwas hin, mein Kind. Oder möchtest du noch einen Nachtisch? Sieh mal! Ich habe Eis gekauft!”
Auch das Eis isst das dicke Mädchen noch, bevor sie sich im Wohnzimmer auf das alte Sofa legt. Nach einer Weile kommt Großmutter herein und setzt sich in den Schaukelstuhl. Sie beginnt zu lesen.

“Was liest du da, Oma?”
“Das ist noch nichts für dich, ich habe dir doch schon einmal erzählt, dass sie es Schundromane nennen.”
Was Großmutter nicht weiß, ist, dass sich das dicke Mädchen oft einen dieser Schundromane vom Stapel nimmt, der sich im Schlafzimmer ihrer Großeltern befindet. Sie stopft ihn unter die Jacke und liest heimlich in ihrer Felsenbehausung. In den Schundromanen verlieben sich alle erst unglücklich, doch dann finden sie zueinander. Das findet das dicke Mädchen sehr schön und so kann sie nicht von diesen Heften lassen. Manchmal sind auch viel spannendere Geschichten darunter. Ganz sehr Verliebte erhängen sich am Dachbalken, werden jedoch im letzten Moment gefunden und abgeschnitten. Woher Großmutter diese Hefte bezieht, ist nicht ganz klar und das dicke Mädchen muss vorsichtig sein, denn die Schundromane sind verboten. Nur deshalb nimmt sie sich heimlich eines davon und legt es auch ebenso heimlich wieder zurück.

Die Zeit vergeht. Anstatt zur Butze im Müll zieht es sie immer mehr zu ihrer Großmutter. Sie ist inzwischen zwölf Jahre alt und wirklich sehr dick. Ihre Brüste sind weiter entwickelt, als die Brüste in dem Katalog, den sie vor einigen Jahren im Steinbruch fand, und lassen sie mindestens fünf Jahre älter wirken. Die Jungen lachen über sie und die alten Männer im Ort stieren ihr auf die Brüste. Trotz ihrer zwölf Jahre bemerkt sie die gierigen Blicke. Sie versteckt ihre Figur unter weiten Pullovern und bequemen Gummizughosen und fühlt sich nur bei ihrer Großmutter so richtig wohl. Die Mutter des dicken Mädchens ist sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, und der ältere Bruder schämt sich wahrscheinlich für sie, wie sonst ließe sich erklären, dass er inzwischen mit dem Luftgewehr auf Büchsen in ihrer Nähe zielt und sie ansonsten ebenso verlacht wie alle anderen Kinder im Dorf. Nur Großmutter hat sie lieb, so glaubt sie. Großmutter gibt ihr zu essen und sicher weiß sie inzwischen auch, dass sich das dicke Mädchen noch immer in Großmutters Schundromane flüchtet. Natürlich muss Großmutter so tun, als wüsste sie das nicht, schließlich darf man solche Lektüre nicht im Haus haben. Nicht einmal Großvater spricht darüber.
Aber alles wird gut werden. Immer wird alles gut. In den Schundromanen, die irgendwann zur Wirklichkeit werden. Dann erscheint ein Prinz für das dicke Mädchen und sie werden zusammen in einer Berghütte wohnen oder eine Arztpraxis leiten und glücklich und zufrieden leben.

Das dicke Mädchen gräbt ihre Finger in die Kissenhülle. Die Mutter hatte ihr ein Dinkelkissen geschenkt, in der Hoffnung, es würde helfen die Fresslust der Tochter zu dämpfen. Selbst nachts nimmt das dicke Mädchen inzwischen Nahrungsmittel aus dem Kühlschrank. Einmal nahm sie die vom Mittag übrig gebliebenen Kartoffelpuffer aus dem Schrank und schlich damit zurück ins Bett. Sie muss darüber eingeschlafen sein, denn am Morgen war ihr Bett voller Leinöl und einige der Kartoffelpuffer fanden sich unter ihrem Kissen. Also verspürte sie nachts gar keinen Hunger? Doch warum stand sie auf und nahm sich einen Vorrat mit ins Bett?

Eine Erinnerung holt sie ein. Bevor sie in die Schule kam, waren es Kaugummis, die sie im Schlaf kaute und sich in ihren Haaren verklebten. Damit es nicht auffiel, schnitt sie ständig an ihrem Haar herum, mit dem Resultat, dass ihr ungleichmäßig geschnittenes Haar eines Tages fallen musste.

“Zieh dich an, Tina!”, sagte ihre Mutter damals.
“So früh schon, ich möchte noch nicht, lass mich doch noch bitte ein wenig schlafen…”
“Nein, los jetzt, wir müssen gehen!”
Die Mutter ließ keinen weiteren Widerspruch zu und mit dem dicken, damals sechsjährigen Mädchen an der Hand gingen die beiden zum Friseur. Kaum sah Tina das Geschäft, begann sie zu weinen. Sie hatte zwar verschnittenes Haar, aber immerhin konnte sie damit noch ihre Pausbäckchen bedecken. Wenn sie den Kopf nach unten hielt, fielen ihr die Fransen ins Gesicht und sie konnte sich dahinter verbergen. Und auch sie brauchte niemanden mehr sehen. Genauso wenig wie gesehen wurde, dass sie sich die Schokoladenstückchen in den Mund stopfte.
Das dicke Mädchen fand sich abscheulich und hässlich, als sie den Salon verließen.
Der kommende Morgen war ihr erster Tag, an dem sie den neuen Kindergarten besuchen sollte und sie verstand nicht, wieso ihr Haar nun kurz sein sollte. Sie verstand so vieles nicht. Weshalb musste sie kurz vor der Einschulung noch den Kindergarten wechseln? Die übrigen Wochen hätte sie auch zu Hause verbringen können. Aber das würde nicht gehen, erklärte ihr die Mutter. Sie habe keine Zeit für das Mädchen. Noch immer wird das dicke Mädchen traurig, wenn sie daran denkt, wie dieser Tag verlief.

“Nun komm schon, ich muss zur Arbeit!”
Die Mutter zieht das Mädchen hinter sich her.
“Was bist du nur so bockig, nun komm doch endlich!”
“Ich will da nicht hin, bitte lass mich zur Oma gehen!” Tinas Weinen wird zum Schluchzen und sie verschluckt sich an den eigenen Worten.
Ich hole dich doch bald wieder ab, bitte Kind! Stell dich doch nicht so an!”

Die Mutter schubst Tina zur Tür und übergibt sie der Erzieherin. Sie hört ihr Kind weinen und nach ihr rufen und holt vor der Tür tief Luft, bevor sie nach ihrer Tasche greift und die Einrichtung verlässt. Tina reißt sich los und rennt zur Tür.
“Mutti! Mutti!”, schreit sie und schüttelt sich vor Weinkrämpfen. Behutsam nimmt die Erzieherin Tina in den Arm und spürt den stocksteifen Körper. Schon wieder so ein Problemkind, denkt sie und: es ist ja kein Wunder, so fett wie sie ist.

“Das ist unsere Tina”, sagt die Erzieherin zu den Kindern, die bereits auf ihren Stühlen sitzen. “Ihr werdet euch gut verstehen und nicht miteinander streiten, hört ihr?”
Die Kinder nicken zustimmend. Tina wird neben einen Jungen gesetzt, es ist der einzige freie Platz im Raum. “Bist du aber fett”, flüstert der Junge ihr zu. “Man, bist du fett!”
Tina wendet sich ab und starrt auf die Milch, die dampfend und übelriechend vor ihr steht. Langsam bildet sich eine Haut und sie rührt mit dem Zeigefinger vorsichtig in der heißen Milch, um die Haut zu zerstören. Sie wird die Milch nicht trinken, sie ekelt sich vor heißer Milch mit Haut.

Der Vormittag im Kindergarten vergeht und das dicke Mädchen hält sich abseits. Der Junge, der am Morgen und nun bald auch zum Mittag neben ihr sitzt, spricht mit den anderen Kindern über sie.
“Habt ihr gesehen, wie fett sie ist? Sie ist die Fetteste bei uns!”
Alle anderen Kinder kichern und schauen zu ihr. Die Erzieherin sitzt am Schreibtisch und beachtet die Kinder nicht. Tina zieht sich immer mehr zurück und erst als alle zum Händewaschen den Raum verlassen müssen, reiht sie sich in die Gruppe ein.
“Tuff tuff tuff, die Eisenbahn, wer will mit in den Waschraum fahr´n…“ Was für ein doofes Lied, denkt sie.
Am Mittagstisch sitzend, starrt sie auf ihren Plastikteller. Kartoffeln, die mit einer braunen Soße übergossen sind und weißes Kraut mit Speck. Zwischendrin ein paar Fleischstücke. Die anderen Kinder sehen Tina an und warten, dass sie zu essen beginnt. Tina starrt auf den Teller. Sie wird das keinesfalls essen.
“Tina iss!”, ruft die Erzieherin. “Die anderen sind schon fast fertig!”
Die Erzieherin redet auf sie ein. Sie redet und redet und hört nicht auf zu reden. Schließlich kapituliert das dicke Mädchen und stopft sich einen Bissen in den Mund. Die Erzieherin ist zufrieden und die Kinder hören damit auf, Tina zu fixieren. Der Tischdienst räumt das Plastikgeschirr vom Tisch und erneut fahren alle mit lautem Gesang in den Waschraum. Sie suchen die Toilette auf und machen sich für die Mittagsruhe zurecht. Geschlafen wird auf Holzliegen im Schlafsack. Zwei Stunden Mittagsruhe sind Pflicht und wer nicht still ist, wird auf den Flur der Einrichtung gestellt. Tina gibt sich Mühe einzuschlafen und schafft es dennoch nicht. Die zwei Stunden werden zur Qual. Zwei Stunden reglos liegen, die Augen geschlossen und nicht auffallen.

Endlich ist es 14.00 Uhr. Gutgelaunt gibt die Erzieherin die Genehmigung zum aufstehen, dann schaut sie zu dem dicken Mädchen.
“Sag mal Tina, ist mir dir etwas nicht in Ordnung? Deine Wangen sind so dick, was ist mit dir?”
Sie ruft eine andere Erzieherin herbei und Tina muss sich vor sie hinstellen.
“Sieh doch mal die dicken Wangen”, sagt die eine zur anderen.
“Was ist nur mit dem Mädchen?”
„Vielleicht bekommt sie Mumps?”
“Das fehlte noch, der ganze Kindergarten könne infiziert werden!”
Die beiden Erzieherin unterhalten sich noch eine Weile miteinander und Tina steht mit hochrotem Kopf zwischen ihnen. Natürlich sind auch die Kinder mucksmäuschenstill, damit sie kein Wort verpassen. Tina beginnt zu weinen. Die herbeigerufene Erzieherin zieht das Mädchen ganz nah zu sich heran und während sie ihr über den Kopf streichelt, bemerkt sie wieder die unnatürliche Größe von Tina´s Wangen.

“Öffne doch mal deinen Mund”, bittet sie.
Tina schüttelt heftig mit dem Kopf.
„Sei so lieb und zeige mir mal deine Zunge!”
Das Schweigen der Kinder und die Hartnäckigkeit der Erzieherin lassen Tina keine Wahl. Sie öffnet ihren Mund.
“Das gibt es doch nicht!”, ruft die Erzieherin laut. “Nun schaut doch alle mal, was wir hier haben!”
Sämtliche Blicke wenden sich ihr zu und das Schweigen wird noch lauter. Es wird ohrenbetäubend laut und Tina möchte sich am liebsten ganz tief in der Erde vergraben.
“Schaut euch das doch mal an! Was ist denn das? Das gibt es doch gar nicht! Das Mädchen hat während der gesamten Mittagsruhe ihr Essen in den Wangentaschen behalten!”
Aus Tinas Mund fällt Kraut, Kartoffeln und Fleisch.

Leises Kichern ist zu hören. Die Kinder kichern und lachen schließlich aus voller Kehle. Das Lachen füllt den Raum. Tina weint. Eine weitere Erzieherin betritt den Raum und nimmt sie tröstend in den Arm.
“Du musst nicht essen, was dir nicht schmeckt”, sagt sie leise. “Lass es einfach auf dem Teller.”
Sie drückt das Mädchen und wendet sich den anderen Kindern zu.
“Und ihr hört sofort auf zu lachen!”

Der Tag nimmt seinen Lauf. Tina ist das letzte Kind, das von seiner Mutter abgeholt wird. Die beiden eilen nach Hause. Sie sind immer in Eile. Immer sieht die Mutter müde aus. Und dann wird sie panisch.

“Das ist doch furchtbar mit diesem Kind. Wenn man es braucht, ist es nicht da. Wo bist du wieder, Tina?!”
Die Mutter läuft hektisch durch die Wohnung. Überall steht schmutziges Geschirr und Krümel liegen auf dem Boden.
“Tina, nun los jetzt, ich muss zur Versammlung!”
Die Mutter schaut schließlich in das gemeinsame Kinderzimmer von Tina und ihrem älteren Bruder und findet Tina, Gummitiere kauend, auf ihrem Bett vor.

“Das habe ich mir doch gedacht! Ich schreie mir hier die Lunge aus dem Hals und du isst schon wieder! Sieh dich doch mal an, ist denn gar nichts vor dir sicher?!”
Tina schaut auf.
“Und vergiss nicht, die Kartoffelschalen und das trockene Brot Karl zu bringen!”
Die Mutter ist schon wieder an der Tür und gibt ihrer Tochter einen Luftkuss.
“Es kann spät werden, ich verlasse mich auf dich. Dein Bruder ist noch mit seinen Freunden unterwegs, wenn er dann kommt, sag ihm bitte, dass er euch ein paar Stullen zum Abendessen zubereitet!”
Die Tür fällt ins Schloss.
Tina steht in der Küche und betrachtet den Futtererimer. Nun muss sie auch noch zu Karl, dem Mann, der ein Holzbein hat und gegenüber auf einem Bauernhof wohnt. Tina hat Angst vor Karl, der sein Bein beim Laufen hart aufsetzt und immer in den Ausschnitt iher Schürze starrt. Seine Glatze und die gierigen Augen machen das Ganze noch schlimmer. Und die Mutter? Nie kann sie mit ihr reden, sie ist immer in Eile. Und nun soll ich wieder die Abfälle weg bringen… vielleicht schaue ich mir doch mein Buch zu Ende an. Mutter hat gesagt, es kann spät werden, bis sie zurück ist, also kann ich auch dann noch zu Karl gehen. Tina legt sich wieder auf ihr Bett und isst die Tüte mit den Gummibären auf. Es dämmert bereits, als sie endlich den Eimer mit den Küchenabfällen nimmt, sich eine Jacke überzieht, sie bist obenhin schließt und sich auf den Weg macht.
“Ich habe überhaupt keine Angst!”, flüstert Tina immer wieder diesen einen Satz.
“Hallo Onkel Karl, ich bin es, Tina! Mutti hat gemeint, ich soll dir Abfälle bringen und wenn du ein paar frische Eier übrig hättest, würde sie sich sehr freuen! Hallo? Onkel Karl?”
Verloren steht das Mädchen inmitten des großen Bauernhofes. Karl hat Schweine, Kühe, Schafe, Hühner und zwei Hunde. Einer der Hunde ist bösartig und immer an der Kette. Tina weiß nicht, ob der Kettenhund sie beißen würde, doch sie traut sich nie, in Reichweite der Kette zu gehen.
“Hallo Onkel Karl?”, wiederholt sie. “Wo bist du?”
Sie ruft und ruft, dann plötzlich verstummt sie. Was ist das für ein Geräusch? Das war nicht das dumpfe Aufstampfen und Nachziehen des Holzbeines von Karl. Es war anders. Ein schmatzendes Geräusch vielleicht. Und ein wenig kratzend oder schabend… Tina sieht sich ängstlich um. Sie sieht den anderen Hund, der ein wenig abseits des Kettenhundes liegt und erschrickt.
Er frisst an einem toten Schaf! Sie glaubt kaum, was ihre Augen da sehen. Der Hund knabbert an den Beinen eines toten Schafes! Die Beine sind nur noch Knochen und schimmern in der beginnenden Dunkelheit. Nicht einmal mehr Haut befindet sich noch daran! Dennoch leckt der Hund noch immer voller Gier an den Beinen des toten Schafes. Tina kann den Blick nicht abwenden.
“Na du? Was schaust du so?” Karls brummige Stimme reißt Tina aus ihrer Lethargie. “Was für eine dicke Jacke trägst du denn da bei dieser Wärme! Dir ist doch sicher warm, mein Kind, nicht wahr?”
“Nein,nein” antwortet Tina. “Mich friert schon den ganzen Tag, Onkel Karl. Und ich soll dir von Mutti ausrichten, dass sie sich über ein paar frische Hühnerheier sehr freuen würde!”
Sie drückt ihm den Eimer in die Hand und dreht sich immer wieder zu dem Hund, der das Schaf frisst, um.

“Nun hab doch keine Angst, mein Kind. Das Schaf ist gestorben. Einfach so gestorben. Es war ein Zuchtschafe, weißt du? Es musste immer dafür sorgen, dass Nachwuchs da ist. Jetzt ist er Altersschwäche gestorben. Du kennst doch das alte Schaf und hast du nicht auch mal gesehen, wie es für Nachwuchs sorgt? Soll ich es dir vielleicht einmal erklären? Jedenfalls ist der Schafbock jetzt tot und ich muss ihn abholen lassen. Solange jedoch kann mein Hund an ihm herumfressen. So ein Schaf besteht nämlich nicht nur aus Wolle und Fleisch. Auch Mineralien und Nährstoffe sind in ihm. Hat deine Mutter schon einmal mit dir besprochen, wie ein Schafbock kleine Lämmer machen kann?”
Tina schaut Karl mit großen Augen an. Sie ist neugierig und möchte gern wissen, wie kleine Lämmer auf einmal da sein können und wenn sie ihre Mutter danach fragen würde, kriegt sie bestimmt wieder zur Antwort, dass sie jetzt keine Zeit für lange Erklärungen habe. Dabei hat sie diesen traurigen Blick, der Tina nicht weiter fragen lässt. Doch Onkel Karls Rede ist Tina auch nicht so recht geheuer, irgendwie guckt er noch ein wenig anders als sonst.
“Was passiert jetzt mit dem toten Schaf, Onkel Karl? Frisst der Hund das Schauf auf, bis es alle ist?”
Der alte Bauer schmunzelt.
“Nein, ich habe dir doch gesagt, ich lasse es dann abholen. Es kommt ein Mann von der Abdeckerei. Das ist eine Fabrik, die Tierkadaver, also auch meinen armen toten Schafbock, weiter verarbeitet. Es wird Creme daraus gemacht. Deine Mutti cremt sich doch ein, abends, bevor sie in ihr Bett geht? Sie macht das bestimmt gleich nach ihrem Bad. Ich sehe sie manchmal, euer Badfenster ist das, was zum Hof hinaus geht, nicht wahr? Jedenfalls wird Creme daraus gemacht, damit deine Mutti ihre schöne, glatte Haut behält. Und du? Sicher isst du manchmal Gummibären? Auch die werden aus meinem toten Schaf gemacht. So ist es richtig, nichts wird verschenkt! Aber jetzt werde ich ein paar frische Hühnereier aus dem Gehege holen, willst du bitte mitkommen?”
„Ich warte draußen, Onkel Karl!”
Tina läuft hastig aus dem Hof, nur weg von dem toten Schaf und dem fressenden Hund.
Sie lehnt sich an den Gartenzaun und übergibt sich. Unverdaute Gummibären würgt sie hervor. Dann hört sie Karl, wie er mit seinem Holzbein hart aufstößt und richtet sich auf.
“Onkel Karl, mir war nur schlecht”, sagt sie schnell, noch bevor Karl ihr die Hand auf den Rücken legen kann. Sie nimmt den Eimer, in dem nun ein paar Eier herumkullern und geht schnellen Schrittes zurück in ihr Zuhause.
“Bis bald, Tina!”, ruft Karl hinter ihr her. “Bis bald! Und zieh dich das nächste Mal nicht so warm an, wenn du mir Küchenabfälle bringst. Dein Gesicht war vom Schwitzen schon ganz rot, das habe ich genau gesehen!”

Es ist auch an diesem Abend spät, als Tina ihre Mutter nach Hause kommen hört. Sie stellt sich schlafend, als sich die Mutter zu ihr beugt, um sie sanft auf die Stirn zu küssen.

Jetzt, Jahre später, drückt Tina noch immer ihr altes Dinkelkissen. Sie denkt über ihr Gewicht nach. Sie überlegt, wieso sie später nicht mehr zu Onkel Karl musste. Hatte sie ihrem Bruder davon erzählt und er es dann der Mutter?
Und während sie die einzelnen Körner des Kissens spürt, schläft sie schließlich ein.

 

 

 




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